Luise Adelgunde Victoria Gottsched

Der Frau Luise
Adelgunde Victoria
Gottschedinn, geb.Kulmus,
sämmtliche
Kleinere Gedichte,
nebst dem,
vonvielen vornehmen Standespersonen,
Gönnern und Freunden beyderley
Geschlechtes,
Ihr gestiftetem Ehrenmale,
und Ihrem Leben,

Leipzig,
bey Bernhard Christoph Breitkopfen u. Sohne
1763



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5. Elegie.
Auf ihrer Mama Namenstag, 1726.
den 24. Nov.
in der Sel. vierzehnten Jahre.


Jüngst gieng Kalliope durch angenehme Gründe,
Und suchte mit Begier der Tugend Meisterstück,
Sie ward ein Haus gewahr, und eilte sehr geschwinde,
Und wandte vor Begier ihr Antlitz nicht zurück.

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Sie fand auch in der That was sie gesuchet hatte,
Der Tugend Meisterstück, der Klugheit wahres Kind,
Drum sprach Kalliope: Ach zürne nicht! verstatte,
Daß bey dem Klugheits—Oel auch Einfalts—Wasser rinnt,
Wie war sie denn gekleidt? In blau und weißer Seide.
Blau, weil der Himmel selbst die Farbe sich ersehn,
Weist augenscheinlich an, wie sie die Laster meide,
Und daß in Ihrem Geist nicht Falschheitsfarben stehn.
Ihr Nam hieß Katharis. Sie war ein Preis der Frauen,
Der Klugen Augenmerk, ein Muster unsrer Zeit,
Im Wesen konnte man was ungemeines schauen,
Ob manchmal gleich der Neid ihr seine Dörner streut.
Auf, sprach Kalliope, ihr Zeiten die verschwunden,
Und die ihr jetzund seyd, erhebet diesen Tag!
Erhebet diesen Tag! an dem ich das gefunden,
Was aller Zeiten Zeit nicht wieder schaffen mag.
Erhebet diesen Tag, ihr meine treuen Schüler,
Ob eure Poesie annoch gleich stammlend ist,
So machet es doch nicht, wie sonst ein Erdenwühler,
Der seines Goldes Schein mit kargen Fäusten mißt.
Nein, sprach hier Katharis: ich will es nicht erlauben,
Ihr sollt mein Namensfest anjetzt nicht mehr begehn:
Man darf ja Kindern nicht von ihrer Mutter glauben,
Drum will ich auch für mich nun nicht mehr Verse sehn.
Das ist ein harter Schluß! erwiederten sie alle,
Soll unser schwaches Lob Dir nicht mehr eigen seyn?
Und willst Du, daß Dein Ruhm auf einmal ganz verfalle?
So wirft auch Dein Befehl uns alle Hoffnung ein.
Darum wird Katharis, ein Jubel—Fest vergönnen,
Damit das dritte Jahr uns stets ein Vivat sey;
Und wir Ihr theures Lob noch mehr erheben können,
So füg ich diesem Blatt ein frohes Fiat bey.